Warum tun wir nichts gegen die aufdringliche Männlichkeit der englischen Sprache?

Warum gibt es zweierlei Maß für gendersensitive Sprache
im Englischen und im Deutschen?

Thorwald C. Franke
© 1. Dezember 2022



Zum Hintergrund

Zunächst ist es wichtig, den Hintergrund dieses Problems zu verstehen: Einst hatte das Old English grammatikalische Geschlechter, genau wie die deutsche Sprache, mit der es eng verwandt ist. Das allgemeine weibliche Suffix war damals "-en", so wie heute das deutsche "-in". So ist z.B. ein weiblicher "user" eine "useren" und ein weiblicher "trader" eine "traderen", genau wie "Nutzerin" und "Händlerin" im Deutschen. Dies ist das Grundprinzip in beiden Sprachen, abgesehen von allen grammatikalischen Besonderheiten.

Diese weiblichen Formen gingen im Laufe der Zeit in der englischen Sprache verloren, und übrig blieben die männlichen Formen. Das bedeutet, dass fast alle heutigen englischen Substantive grammatikalisch männlich sind! Ja, in der Tat: baker, butcher, officer, manager, teacher, trader, user, soldier, member usw. sind alles grammatikalisch männliche Formen. Es heißt immer -er, -er, -er, und nicht -en, -en, -en. Die englische Sprache zeichnet sich sozusagen durch eine aufdringliche Männlichkeit aus.

Natürlich wurde uns immer gesagt (von alten weißen männlichen Grammatikern), dass die englischen Substantive ihre maskuline Bedeutung "verloren" hätten. Sie sind grammatikalisch immer noch zu 100 % maskulin (daran besteht kein Zweifel), aber sie haben angeblich ihre gesamte Männlichkeit verloren, ohne dass Spuren von Männlichkeit übrig geblieben wären. Dies ist die traditionelle, die konservative Erklärung des Phänomens.

Aber stimmt das wirklich?

Diese Erklärung ist nicht glaubwürdig! Denn das ist genau dasselbe, was alte weiße männliche Grammatiker über das generische Maskulinum in der deutschen Sprache sagen: Sie sagen, dass in der Aussage "die Mitarbeiter" weibliche Kollegen nicht nur "mitgemeint" sind, sondern dass das generische Maskulinum an sich keine spezifisch männliche Bedeutung hat, trotz seiner grammatikalischen Maskulinität. Mit anderen Worten: Was im Deutschen als generisches Maskulinum bezeichnet wird, ist im Englischen eigentlich überall: Die englische Sprache kennt nur generische Masculina: Während fast jedes Substantiv der englischen Sprache grammatikalisch männlich ist, ist es in seiner Bedeutung (angeblich) neutral!

Für die deutsche Sprache zeigen Studien, dass das grammatikalische Maskulinum tatsächlich eine bestimmte männliche Bedeutung auf das generische Maskulinum überträgt. Für das Englische weiß jeder auch ohne Studium, dass dies ebenfalls zutrifft: Wir alle haben schon den Moment der Überraschung erlebt, wenn wir einige Zeilen eines englischen Textes gelesen haben und dann plötzlich auf ein "she" stoßen, wodurch plötzlich klar wird: Dieser Text handelt von einer Frau!

Es ist einfach nicht wahr, dass die englische Sprache ihr Gender-Bewusstsein vollständig "verloren" hat! Das Geschlecht ist sehr lebendig, sogar in expliziter Form: So z.B. in Pronomen wie "he", "she", "it". Und nicht alle Substantive haben ihr Geschlecht verloren. Eine ganze Reihe von Substantiven hat immer noch ein Geschlecht, wie z. B. "waiter": Ein weiblicher Kellner ist auch heute noch kein "waiter", sondern eine "waitress". Oder es gibt das generische Maskulinum "he", das für eine Person unbekannten Geschlechts verwendet wird, genau wie in der deutschen Sprache. Dieses generische Maskulinum "he" ist nicht im Mittelalter aus der Mode gekommen, sondern erst in den letzten Jahren, und auch nur in bestimmten Milieus! Im Englischen ist noch genügend Gender-Bewusstsein vorhanden, um eine gewisse männliche Bedeutung vom grammatikalischen Maskulinum auf vermeintlich geschlechtsneutrale Substantive zu übertragen.

Das führt uns unausweichlich zu einer ernsten Frage

Warum glauben die Befürworter einer gendersensitiven Sprache, dass die aufdringliche englische Maskulinität überhaupt kein Problem sei und dass englische Substantive trotz ihrer offensichtlichen grammatikalischen Maskulinität wirklich alle Spuren ihrer maskulinen Bedeutung verloren hätten ... während sie dies für das generische Maskulinum der deutschen Sprache nicht glauben? Denn es ist genau das gleiche Phänomen: Die Wörter sind grammatikalisch maskulin, aber angeblich nicht maskulin in ihrer Bedeutung. Denn natürlich überträgt sich eine gewisse Männlichkeit vom rein grammatikalischen Maskulinum auf die angeblich geschlechtsneutralen Wörter!

Doch dieser Selbstwiderspruch wird von den Befürwortern einer gendersensitiven Sprache ignoriert. Diese Ignoranz überzeugt überhaupt nicht und ist einfach nur unlogisch. Während man im Englischen "baker" sagt, sagt man im gendersensitiven Deutsch "Bäcker*in". Man bedenke: Es ist genau das gleiche Wort! "Bäcker" und "baker" ist genau dasselbe, aber in der einen Sprache bleibt es "baker", in der anderen wird es zu "Bäcker*in" verändert. Sehr merkwürdig.

Noch seltsamer wird es bei Wörtern, die aus dem Lateinischen stammen, z.B. "Administrator". Das Suffix "-or" ist offensichtlich ein männliches Suffix, und viele Sprachen haben dafür eine weibliche Form bewahrt, z. B. "amministratore" / "amministratrice" im Italienischen und "administrateur" / "administratrice" im Französischen, und natürlich "Administrator" / "Administratorin" im Deutschen. Aber die englische Sprache kennt nur "administrator". Eine aufdringlichere Männlichkeit kann man sich kaum vorstellen! Während die deutsche gendersensitive Sprache zu "Administrator*in" modifiziert, bleibt das Englische einfach stur bei "administrator". Die aufdringliche Maskulinität der englischen Sprache ist unübersehbar.

Die Lösung

Wenn man den gleichen Ansatz der Gendersensitivität konsequent auf alle Sprachen anwendet, kann man die traditionelle aufdringliche Männlichkeit der englischen Sprache nicht einfach ignorieren. Daher wäre es nur konsequent, die gleichen Methoden, die für die deutsche Sprache gelten, auch auf die englische Sprache anzuwenden. Denn natürlich überträgt die grammatikalische Maskulinität englischer Substantive eine gewisse maskuline Bedeutung auf diese Substantive! Wenn man dies für die deutsche Sprache glaubt, kann man es für die englische Sprache nicht anders sehen.

Unter diesem Gesichtspunkt muss und kann die Lösung nur in der Wiederbelebung weiblicher Formen in der englischen Sprache liegen, um ihre aufdringliche Männlichkeit zu brechen. Nein, das ist keine weit hergeholte Idee. Denn es ist ganz einfach und eine solche Wiederbelebung alter Formen im Sinne der Gendersensitivität hat bereits stattgefunden: Bekanntlich vertreten Befürworter einer gendersensitiven Sprache die Idee, dass die Pronomen they/them in älterem Englisch (angeblich) auch auf Singulare angewendet wurden, und so haben sie diese altenglischen Pronomen für unsere moderne Zeit wiederbelebt. Ja, eine solche Wiederbelebung alter Formen hat bereits stattgefunden! Dasselbe kann man auch für die weiblichen Formen tun. Und es ist ganz einfach: Man fügt einfach ein "-en" hinzu, wie das "-in" im Deutschen. Jeder kann das tun! Einfach "useren" oder "traderen" für weibliche User und Trader. Und es ist nicht nötig, die komplette altenglische Grammatik mit all ihren Besonderheiten wiederzubeleben: Auch für die altenglischen Pronomen they/them wurde dies nicht getan.

Und als zweite logische Konsequenz muss der Gender-Stern in die englische Sprache eingeführt werden. Während es im Deutschen "Nutzer*in" oder "Händler*innen" heißt, ist es im Englischen "user*en" oder "trader*ens". Das sieht doch klasse aus, oder? So einfach und so eine tolle Verbesserung unter dem Gesichtspunkt der Gendersensitivität! Und beim Übersetzen von Texten zwischen den beiden Sprachen wird die Ähnlichkeit der Geschlechtsformen in beiden Sprachen alles einfacher machen! Auch das Sprechen des Gender-Sterns ist einfach: Es ist nur ein einfacher Glottisschlag, wie im Deutschen.

Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass dies sehr künstlich und nicht natürlich ist! Sagen Sie nicht, das sei hässlich und ein Angriff auf Ihre sprachliche Ästhetik. Und sagen Sie nicht, dass es einfach nicht praktikabel ist. Denn das ist die Art und Weise, wie die deutsche Sprache derzeit genderikruzifiziert wird. Und wenn es für das Deutsche gut ist, warum sollte es nicht auch für das Englische gut sein?! Bleiben Sie positiv! Immer schön lächeln!

Aber halt, es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit, das Problem zu lösen. Irony off!

Die bessere Lösung

Anstatt den auf die englische Sprache angewandten Ansatz der Gendersensitivität an den auf die deutsche Sprache angewandten Ansatz anzupassen, könnte die Anpassung auch andersherum vorgenommen werden. Selbst wenn eine gewisse Männlichkeit auf die angeblich geschlechtsneutralen Substantive von ihrer grammatikalischen Maskulinität her übertragen wird, ist es wirklich gerechtfertigt, so tiefgreifende Veränderungen an der Sprache vorzunehmen? Veränderungen, die sehr künstlich und wirklich nicht natürlich sind. Veränderungen, die hässlich sind und einen Angriff auf unsere sprachliche Ästhetik darstellen. Veränderungen, die einfach nicht praktikabel sind. Ist eine solche Genderikruzifizierung unserer Sprachen wirklich gerechtfertigt und sinnvoll? Nein. Eindeutig nicht.

Und vielleicht stimmt es ja, was die alten weißen männlichen Grammatiker über die englischen Substantive sagten, und es ist tatsächlich nicht viel Männlichkeit in ihnen übrig geblieben, obwohl sie grammatikalisch zweifellos männlich sind, und obwohl es eine gewisse männliche Bedeutung gibt, die von ihrer grammatikalischen Männlichkeit auf sie übertragen wurde. Das mag auch für die deutsche Sprache gelten: Obwohl in bestimmten westdeutschen Milieus das Bewusstsein für die Geschlechtsneutralität des generischen Maskulinums in den letzten Jahrzehnten bröckelte, zeigen Umfragen, dass die meisten Deutschen immer noch mit dem Bewusstsein leben, dass das generische Maskulinum keine übertrieben einseitige männliche Bedeutung hat, die zum Handeln Anlass gäbe. Deshalb bevorzugen es die meisten Deutschen hartnäckig gegenüber gendersensitiven Sprachveränderungen, obwohl sie generell für die Gleichberechtigung der Geschlechter sind.

In Ostdeutschland ist dieses Bewusstsein noch besser erhalten. So sagen z.B. ostdeutsche Bauarbeiterinnen über sich selbst: "Ich bin Bauarbeiter", oder ostdeutsche Ärztinnen sagen: "Ich bin Arzt". Sie sagen nicht "Bauarbeiterin" oder "Ärztin", wie einige (nicht alle) Westdeutsche es sagen, und sie sagen es mit Stolz! Sie empfinden es sogar als Beleidigung, wenn man sie mit der weiblichen Form "Bauarbeiterin" oder "Ärztin" anspricht, da das generische Maskulinum "Bauarbeiter" und "Arzt" für sie überhaupt keine männliche Bedeutung hat, genau wie Substantive in der englischen Sprache. Wenn man ihnen eine andere (weibliche) Form zuschreibt, ruft das das Gefühl hervor, nicht gleichwie ihre männlichen Kollegen behandelt zu werden. Auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vermeidet die gendersensitive Sprache und verwendet konsequent das generische Maskulinum, z.B. in seiner programmatischen Rede vom 28. Oktober 2022, in der er die Deutschen auf kommende Härten vorbereitete ("Bürger", "jeder einzelne").

Wenn man wirklich mehr Bewusstsein für beide Geschlechter in der deutschen Sprache schaffen will, wäre die gleichzeitige Nennung beider Geschlechter die viel bessere Lösung (z.B. "Händlerinnen und Händler", "er oder sie"). Diese Methode braucht keine rohe Gewalt und wendet sich nicht gewaltsam gegen die Sprache, wie sie sich natürlich entwickelt hat. Außerdem ist sie von größerer Schönheit und Eleganz.

Natürlich kann man in einem Text nicht ständig auf beide Geschlechter hinweisen, das würde erneut den Eindruck der Aufdringlichkeit erwecken. Andererseits wird Aufmerksamkeit und Bewusstsein für beide Geschlechter sicher viel effektiver hervorgerufen, wenn man beide Geschlechter seltener und damit unerwartet nennt. Wir haben bereits den bekannten Effekt in englischen Texten erwähnt, wenn plötzlich ein unerwartetes "she" auftaucht und überraschend deutlich macht: Es handelt sich um eine Frau. Ähnliche Effekte können in der deutschen Sprache mit dem generischen Maskulinum erzielt werden.

Es ist eine Herausforderung und eine Kunst, die gleichzeitige Benennung beider Geschlechter intelligent in einen Text einzustreuen. Die Art und Weise, wie Sie dies tun, zeugt von Ihrem Esprit und Ihrer Intelligenz und ist das komplette Gegenteil des brachialen Ansatzes einer aufdringlichen Genderikruzifizierung unserer Sprachen, wie sie die pseudo-gebildeten Kleingeister unserer "modernen" Welt haben wollen.

Am Ende eine Narretei

Zuguterletzt sei enthüllt, dass es in älterem Englisch nie ein they/them für Singular gab. Dessen "Wiederbelebung" ist ein Schwindel der Befürworter der gendersensitiven Sprache. Deshalb schlugen die ersten ernsthaften Versuche, ein geschlechtsneutrales Singularpronomen einzuführen, z.B. "ou", "it" oder "which" vor, aber nicht they/them.

Es gab lediglich Sätze mit einem Subjekt, das zwar im Singular war doch eine plurale Bedeutung hatte, verbunden mit einem they/them. Daher hatten diese they/them in Wahrheit keine Singular-Bedeutung, sondern eine Plural-Bedeutung. Beispiele: "There's not a man I meet but doth salute me / As if I were their well-acquainted friend" (William Shakespeare, A Comedy of Errors, 1623). Dieses "not a man ... but" bedeutet hier: all the men = Plural. Oder: "Every fool can do as they're bid." (Jonathan Swift, Polite Conversation, 1738). Dieses "every fool" bedeutet: all the fools = Plural.



Rechtliche Hinweise!
COPYRIGHT © Dec 2022 Thorwald C. Franke